„So ein schönes Wetter! Und ich bin im Haus und putze…“.
Kathi zieht ihre Gummihandschuhe aus und wirft sie lustlos ins Spülbecken. Dabei fällt ihr Blick hinaus in den Garten, in dem ihre fast dreijährige Tochter Mila gerade einen Sandkuchen in den Backofen ihrer Kinderküche schiebt.
„Papi!“, ruft ihre Kleine fröhlich, „Duchen is dleich feddich!“
Kathi reibt ihre feuchten Hände an ihrer Jeans ab und lässt sich frustriert auf einen der Stühle fallen.
„Oh man, wenn ich doch nur wüsste, wie es weitergeht!“
Niedergeschlagen schaut sie auf den Familienplaner, der an der Wand neben ihr hängt. Die Aufschrift des aufgeklappten Kalenderblatts, die in dicken schwarzen Buchstaben verkündet, dass die Hälfte des Jahres bereits vorüber ist, wirkt in diesem Moment beinahe bedrohlich auf Kathi.
„Meine Elternzeit ist beinahe vorbei und ich weiß immer noch nicht, was ich danach machen will…!“
In diesem Moment fällt ein besonders leuchtender Sonnenstrahl aufheiternd durch das Küchenfenster und streift beinahe willentlich Kathis Gesicht. Kathi atmet tief aus und lässt sich hingebungsvoll in die Polsterlehne ihres Stuhls fallen. Dabei schließt sie genießerisch ihre Augen und reckt ihren Kopf wie automatisch Richtung Sonne.
„Ach, eigentlich ist das Haus ja sauber genug…“.
Einen kurzen Moment denkt sie darüber nach, was dieser plötzliche Impuls ihr sagen wollte. Dann springt sie von ihrem Stuhl hoch, schnappt sich ihre Sonnenbrille und läuft zur Haustür.
Als sie die Tür öffnet, wird sie prompt von einem warmen Luftzug umfangen und das Zwitschern der Vögel klingt in ihren Ohren. Zielstrebig läuft Kathi zum Carport, in dem ihr neues Fahrrad bereits seit Tagen auf seine erste Ausfahrt wartet.
„Schatz, ich dreh´ mal eine kleine Runde!“, ruft sie ihrem Mann zu, der gerade ein Stückchen des frischgebackenen Sandkuchens von Mila probiert und schon trampelt Kathi in die Pedale und winkt ihrer verwunderten Familie zum Abschied lachend entgegen.
Ohne darüber nachzudenken, welcher Weg nun „der Beste“ für ihre kleine Tour wäre, biegt Kathi auf eine wenig befahrene Landstraße ein und rast kurz darauf einen abfallenden Feldweg begeistert hinunter. Der Wind pfeift ihr um die Ohren und zerzaust ihre langen Haare. Und mit der steigenden Geschwindigkeit vergisst Kathi auch endlich all die bohrenden Fragen nach ihrer beruflichen Zukunft, um die sich ihre Gedanken den ganzen Vormittag gedreht hatten.
Eine geistesabwesende Trampelstrecke weiter findet sich Kathi inmitten einer vom Sommer wachgeküssten Landschaft wieder und sie bemerkt erst jetzt, dass sie mit dem Wind im Rücken noch viel schneller vorwärtsgekommen war, als sie es im Voraus vermutet hatte. Die Rapsfelder stehen im leuchtenden Gelb, rote Mohnblumen zieren den Wiesengraben neben ihr und die Sonne wirft Kathis Schatten direkt vor ihr auf den steinigen Feldweg.
„Oje, ich muss die ganze Strecke ja dann auch wieder zurück fahren…“, meldet sich ein übereifriges Gedankengut zu Wort. Und durch Kathis sofortige Beachtung angespornt tritt auch noch ein zweiter Kopfzerbrecher auf die Bühne.
„Das wird ewig dauern mit all den Hügeln! Und daheim warten sie bestimmt schon auf mich!“
Von ihrem pflichtbewussten Verstand überredet, stoppt Kathi das Rad und wendet wohlerzogen in die entgegengesetzte Richtung. Dabei richtet sich ihr Blick auf die scheinbar endlose Straße mit all ihren Steigungen, Kurven und unübersichtlichen Windungen, die nun vor ihr liegt. Der Weg nach Hause kommt ihr plötzlich sehr mühselig vor, fast unüberwindbar. Beim Gedanken daran, wie viele Kilometer sie jetzt zurücklegen muss – mit Gegenwind und ansteigender Straße – wird ihr ganz übel. Am liebsten würde sie ihr Mountainbike einfach am Wegesrand ablegen und sich in den Schatten setzen, bis ihr Mann sie mit dem Auto und einer eiskalten Apfelsaftschorle abholen würde.
Kathi wischt sich den Schweiß von der Stirn und schiebt wacker ihre Zweifel beiseite, die ihr bereits fleißig einreden, dass sie es niemals rechtzeitig zum Mittagessen bis nach Hause schaffen würde. Aber sie war doch auch mühelos bis hierher gekommen, dann kann der Weg zurück ja auch nicht viel länger sein.
Wie aus dem Nichts bildet sich plötzlich eine Metapher vor ihren inneren Augen, die in diesem Moment so passend scheint, als hätte sie ein übergeordneter Drehbuchschreiber ganz bewusst für diese Situation ihres Lebens geschrieben.
„Mit meiner Geduld und der Angst vor meiner beruflichen Zukunft ist es ja gerade irgendwie ähnlich… Wenn ich immer nur nach vorne schaue und mich darauf konzentriere, wo ich heute schon gerne sein würde, dann kommt mir der Weg bis dorthin noch unendlich lang und kräftezehrend vor. Klar wäre es dann einfacher, aufzugeben und abzusteigen – aber dann komme ich auch nie an mein Ziel.“
Kathi trampelt den leicht ansteigenden Berg hinauf, während sich das Gleichnis munter in ihren Kopf weiterspannt. Dabei blickt sie auf den Boden unter ihren Rädern und sie sieht, wie sich ihr Schattenbild unermüdlich fortbewegt… Das Trampeln fällt ihr auf einmal viel leichter, so als würde sie ihren Verstand überlisten, der nun gar nicht mehr sehen kann, ob sie einen Berg hochfährt oder sich auf einer ebenen Straße fortbewegt.
„Wenn ich meine Aufmerksamkeit von den Hürden, die vor mir liegen, weglenke und mich als Außenstehender betrachte, dann erkenne ich meine eigene Kraft und Stärke und sehe, dass ich mich sehr wohl vorwärtsbewege. Ich befinde mich nicht im Stillstand! Ich bewege mich stetig, immer einen Schritt nach dem anderen, auch wenn ich das manchmal gar nicht wahrnehme!“
In diesem Moment streifen zwei Zitronenfalter Kathis Arm und flattern zutraulich und ohne Scheu vor ihr durch die Luft. Kathi blickt den beiden munteren Freigeistern fasziniert hinterher. Es ist erstaunlich, aber fast hat sie das Gefühl, als würden sie diese Schmetterlinge ein Stück ihres Weges begleiten wollen. Sie flattern fröhlich auf und ab, die zarten Flügel bewegen sich unermüdlich, rauf und runter, es ist wie ein kleiner Tanz, den die kleinen zitronengelben Wesen für Kathi in der warmen Sommerluft aufführen. Als Zuschauerin dieses fröhlichen Schauspiels bemerkt Kathi die Anstrengung in ihren Beinen kaum und legt einige weitere Höhenmeter mit Freude am Moment zurück.
„Ja, vielleicht sollte ich einfach öfters einmal im Hier und Jetzt bleiben und mich vom Augenblick inspirieren lassen, anstatt immer bereits einen Schritt weiter sein zu wollen. Wie viele schöne Dinge finde ich doch gerade jetzt, in diesem Moment! Wie schön ist die Zeit als Mama, die ich täglich zuhause mit meiner kleinen Mila verbringen kann!“
Als Kathi bereits mehr als die Hälfte des Berges geschafft hat, hört sie das Knirschen von Steinen hinter sich und eine Frau ruft freundlich „Achtung, von hinten!“. Kathi fährt rechts an den Rand des Feldweges und wird im gleichen Moment von einer geübten Mountainbikerin überholt, die den Berg offensichtlich ohne jegliche Anstrengung meistert und nur wenige Augenblicke später hinter der nächsten Kurve verschwindet. „Na super, und ich trample mich hier ab und komme nicht von der Stelle…“ Kathi unterdrückt den Impuls, vom Fahrrad abzusteigen und es in den nächsten Graben zu schmeißen. Sie schaltet in einen kleineren Gang und legt all ihren Ärger in die Kraft ihrer Beine. „Komm schon Kathi,“ feuert sie sich selbst an, „Fast bist du oben!“
„Ja, und so ist es auch im echten Leben, wenn ich mich immer mit den Anderen vergleiche. Es gibt immer wieder Überflieger, von denen ich, mir nichts dir nichts, überholt werde und die ein Tempo vorlegen, das ich kaum halten kann. Dann zweifle ich an mir selbst und frage mich, warum es die anderen schaffen und ich nicht. Aber ich kann es ja auch von der anderen Seite betrachten und mich vom Windstoß, den der andere hinterlässt, antreiben lassen! Dadurch bekomme ich doch selbst auch wieder neuen Schwung und einen klitzekleinen Anstoß, der mich weiterbringt.“
Nach einigen hundert Metern entdeckt Kathi schließlich am Wegesrand eine kleine Bank unter einem Kirschbaum, die ihr vorher gar nicht aufgefallen war. Erleichtert steuert sie den kleinen Rastplatz an und lässt sich ausgepowert, aber dennoch mit einer ganz neuen Vitalität auf die Holzbank fallen. Als sie zurückblickt auf den Weg, den sie bereits zurückgelegt hat, ist sie ganz stolz auf sich.
Sie sieht eine Pusteblume, die ihr direkt entgegen zu wachsen scheint. Lächelnd zupft sie die Blume ab. Sie erinnert sich an die kleine Geschichte, die sie Mila immer über die 1000 Wünsche erzählt, die von den Pusteblumen in den Wind getragen werden. Dann schließt sie die Augen und schickt ihren Herzenswunsch beim Pusten mit ihren Gedanken in den Himmel:
„Ich wünsche mir mehr Geduld mit mir selbst! Und dass ich mein Leben, meinen ganz eigenen Weg, als spannende und wunderschöne Reise ansehen kann, die mich ganz gewiss in meinem Tempo zum Ziel bringen wird! Ja, genau das wünsche ich mir!“
Und als Kathi später voller Elan zuhause ankommt, begrüßt ihr Mann sie mit einer eiskalten Apfelschorle und ihre kleine Tochter springt ihr fröhlich in die Arme.
© 2021 by Sandra Wagner - die Texte und Bilder sind urheberrechtlich geschützt.
Comments