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Wenn aus Trauer Liebe wird

1 Alles ist gut

 

Piep. Piep. Piep. Piep. Meine Gedanken klammern sich an die monotonen Geräusche des Überwachungsmonitors. Bloß nicht aufwachen. Bloß nicht die Augen aufmachen. Alles ist gut. Er hat doch gesagt: „Alles ist gut.“ Weiterschlafen. Ich muss so tun, als würde ich schlafen. Alles ist gut, solange ich schlafe.

Ein stechender Schmerz durchbohrt meinen Unterleib. Es brennt. Es pocht. Als würde der Schmerz mit meinem Herzen einen Tango in der Hölle tanzen, pulsieren beide im gleichen Takt.  Abgrundtiefe Angst erfüllt mich bis ins Innerste. Piep. Piep. Piep. Piep. Nur nicht die Augen öffnen! Ich brauche keine Schmerzmittel. Ich will nicht zeigen, dass ich wach bin. Ich will nicht hören, dass nicht alles gut ist. Ich lasse mich in den Schmerz fallen und wiederhole immer wieder mein Mantra: Alles ist gut.

In meinem fieberhaften, friedlosen Dämmerzustand wiederholen sich Schmerzen und Panik in Endlosschleife und summieren sich in mir zu einer handlungsunfähig machenden Ohnmacht. Angstdurchflutet liege ich in meinem eigenen Schweiß, nicht in der Lage, diesen Zustand zu verlassen. Ich höre eine Frau wimmern. Sie verlangt nach einem weiteren Schmerztropf. Ich bin also nicht alleine in diesem Zimmer. Ich höre Schwestern. Es piept und klappert und Geräusche verschwimmen miteinander im Wirrwarr dieser scheinbar unwirklichen Welt, in die ich einfach hinein geschleudert wurde.

WO SIND MEINE BABYS?? Wo ist mein Mann? Aber er sagte vorhin: „Alles ist gut“. Er ist bestimmt bei den Kindern. Wenn er nicht bei mir ist, ist alles gut. Dann ist er bei den Kindern. Alles ist gut. … das darf nicht anders werden! Piep. Piep. Piep. Piep.

 

Als mein Mann und ich ein paar Monate zuvor in der Kinderwunschklinik von meiner Zwillingsschwangerschaft erfuhren, erfüllte sich unser größter Herzenswunsch. Unser jahrelanges Hoffen und Bangen waren vorbei. Endlich sollten wir eine Familie werden! Dieses doppelte Leben, das nach einer Wartezeit von dreieinhalb Jahren und nur mithilfe der Medizin schließlich in mir Platz gefunden hatte, machte unser Glück vollkommen. Fortan geschah alles, was wir taten, in unermesslicher Dankbarkeit und Ehrfurcht dem Geschenk des Lebens gegenüber, das ich in mir trug. Diese zwei kleinen Wesen erweiterten unser Bewusstsein über allen Maßen und machten aus Mann und Frau eine Familie! Wenn wir abends zusammen einschliefen, schlugen vier Herzen in unserem Bett. Und wenn wir am nächsten Tag gemeinsam aufwachten, strahlte mein Mann mich mit einem „Guten Morgen ihr drei“ an. Unser Leben änderte sich mit einem Male von einem „Du und ich“ auf ein wundervolles „Wir vier“. Glück kann sich unmöglich größer anfühlen als unseres in diesen Monaten.

Doch dann zerplatzte unser Traum und erschütterte unsere Welt bis ins Innerste. Es war ein Samstag, als mein Mann mich, beunruhigt von den starken Bauchschmerzen, die ich ihm beschrieb, zur Kontrolle ins Klinikum fuhr.

Piep. Piep. Piep. Piep. „Schatz … bitte ... wach auf!“

Die vom Schluchzen erstickte Stimme meines Mannes bohrt sich in meine Seifenblase aus Illusion, in der das Mantra „Alles ist gut“ zu meinem kläglichen Überlebensanker wurde. Hilflos umschließt er meine Hand und will scheinbar, dass ich zu mir komme. Zu ihm. Mir ist schwindelig. Ich habe kaum Kraft, meine Augen zu öffnen. Alles schmerzt. Gleichzeitig übermannt mich eine höllische Angst davor, was er mir gleich sagen könnte.

„Schatz … ich schaff‘ das alles nicht ohne dich!“

Zaghaft öffne ich meine Augen. In verschwommenen Konturen sehe ich das gequälte Gesicht meines Mannes, direkt über mich gebeugt. Bittere Tränen der Verzweiflung rinnen seinen Wangen hinunter.

„Oh Gott, es tut mir so leid … Schatz, Romy ist gestorben! Und Lenny kämpft um sein Leben! Wir sollen eine Entscheidung treffen, was wir machen! Was sollen wir nur tun?!“

In nur einem Augenblick bricht scheinbar alles aus ihm heraus, was er in den letzten Stunden angesammelt hat und alleine tragen musste.

Ich kann nicht begreifen, was ich da höre. Breche zusammen, so wie auch mein Herz in diesem Moment. Wir klammern uns laut weinend, fast schon schreiend, aneinander. Verzweifelt rufe ich immer wieder: „Nein!! Das kann nicht sein! Es ist alles gut! Du hast doch gesagt, alles ist gut!“

Ein Arzt kommt und zieht meinen Mann sichtlich ergriffen aber energisch von mir weg. Sie hätten keine Zeit mehr. Sie müssten eine Entscheidung fällen und zurück auf die Kinderintensivstation zu Lenny. Unserem kleinen Sohn. Der im gleichen Moment um sein von uns so lange erwartetes Leben kämpft.

Ich bleibe zurück. Bekomme keine Luft. Will schreien, mich mit aller Kraft gegen das wehren, was ich gerade hören musste. Ich schaffe es nicht, das ganze Ausmaß dieser schreckensvollen Nachricht zu erfassen. Will der Szene dieses Lebens, das nicht zu mir zu gehören scheint, mit aller Macht entfliehen. Doch ich bin zu nichts fähig. Die Schmerzen einer großen Wunde an meinem Bauch – dem Schnitt, mit dem Ärzte nur Stunden zuvor meine Zwillinge auf die Welt geholt haben – lähmen mich und nehmen mir sogar diese kurzzeitige Möglichkeit zur Entladung all jener Verstand raubenden Gefühle. Wie in Trance nehme ich wahr, dass sich mitfühlende Gesichter an meinem Bett versammeln. Eine Ärztin, die mir irgendwelche Medikamente per Infusion verabreicht. Schwestern, die mich mit Tränen in den Augen trösten, wo kein Trost der Welt Linderung verschaffen kann.

Unsere Zwillinge sind gestorben, noch bevor ich sie ins Leben begrüßen konnte. Gott hatte ihnen und uns eine gemeinsame Zeit von 22 Wochen und 3 Tagen in meinem Bauch geschenkt. Eine Zeit, die reicher an Freude nicht hätte sein können.

Unsere Tochter Romy verließ unsere Welt nach eineinhalb Stunden Erdenleben. Unsere Mausi. Unsere süße Prinzessin.

Elf Stunden später folgte ihr unser Sohn Lenny in den Himmel. Unser Schatz. Unser kleiner Rockstar. Er beschloss von sich aus, die Reise zu den Sternen anzutreten. Wir mussten die vom Arzt so hilflos erzwungene Entscheidung also nicht mehr treffen, Lenny mit intensivmedizinischen Maßnahmen am Leben zu halten.

Ich habe meine beiden Babys nicht lebend gesehen. Auch wenn es mir hilft zu wissen, dass mein Mann rechtzeitig zurück auf der Kinderintensivstation war, um unseren Sohn zärtlich streichelnd in den Himmel zu entlassen, bricht mir dieses nie stattgefundene Wunder eines ersten Kennenlernens fast das Herz.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie mein Mann nach dem Sterben unseres zweiten Kindes zurück an mein Bett kam und mich sanft dazu ermutigen wollte, unsere Zwillinge ein erstes und letztes Mal mit all der Liebe einer jungen Mama in die Arme zu schließen.

„Schau sie dir an Schatz, sie sind so wunderschön! Du musst keine Angst haben.“

Doch die entsetzliche Vorstellung, meine geliebten Babys, die vor kurzem noch so viel reges Leben in meinen Bauch zauberten, nun schlaff und leblos in meinen Armen zu halten, brachte mich fast um den Verstand. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mir die Kabel vom Leibe zu reißen und zu meinen Kindern zu rennen, sie zu küssen und zu beschützen, ein Leben lang. Der schreckliche Gedanke daran, dass ihr Leben bereits vorbei war, fesselte mich jedoch ohnmächtig an mein Bett.

Erst die zusätzlichen Überredungskünste einer Hebamme vollbrachten das Wunder, das ich ein paar Augenblicke später zusammen mit meinem Mann erleben durfte.

Ich habe sie gesehen, die für mich schönsten Babys der Welt. Habe sie mit meinen Händen gestreichelt. Ihre zierlichen kleinen Körper ertastet. Erforscht, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Mit den Augen ihr anmutiges Wesen in mich aufgenommen, wie ein Foto, das niemals verblassen wird. Ich habe ihre winzigen Fingerchen gezählt und mein bereits vorhandenes Wissen bestätigt, dass sie perfekt sind. Mit der Nase an ihnen geschnuppert und ihren Duft für immer in mir konserviert, wie ein Parfum, von dem man nicht genug bekommen kann. Mit den Ohren vernommen – fast wie ein Außenstehender – wie wir das erste Mal mit tränenerstickter Stimme ihr Gute-Nacht-Lied sangen. Unser „Lalelu“. Nicht mehr in meinen Bauch hinein, sondern direkt in ihr bezauberndes Antlitz. Ich habe den salzigen Geschmack unserer Tränen auf ihren Gesichtern geschmeckt. Den Tränen eines urplötzlichen Abschieds, den das Schicksal noch vor den lange ersehnten Willkommensgruß stellte.

Ich ließ mit gebrochenem Herzen von ihren kleinen Körpern ab, entließ meine Kinder in ihren Frieden und unternahm somit den allerersten Schritt in ein Leben ohne sie.

Rückblickend gesehen weiß ich heute, rund acht Jahre später, dass ich nie mehr „ohne sie“ war...

Trauer - zeitloser Raum

"Der Tod unserer Kinder hatte uns an den Rand des Weltgeschehens gestellt und wir fühlten uns, als wäre das "Davor" Lichtjahre von uns entfernt und ein "Danach" niemals zu erreichen.

Rückblickend gesehen war es genau diese Ausblendung von jeglicher Zeit und Raum, die mich widerstandslos durch den tiefen Schmerz genau in meine heilende Mitte führen konnte."

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