Auszug aus meinem Buch "Wenn aus Trauer Liebe wird"
Tagebucheintrag vom 6. Oktober 2010, 6 Wochen nach dem Tod meiner Kinder:
"Ich bin heute schon sehr früh aufgestanden, weil ich einfach nicht mehr schlafen konnte, als Marco ins Büro gegangen ist. Der Vormittag lief ganz dumpf ab. Ich war einfach nur leer und funktionierte irgendwie. Nach einer gewissen Zeit hielt ich diesen Zustand nicht mehr aus und ich verspürte den inneren Zwang, die Fotos unserer Babys anzuschauen, die in der Klinik gemacht wurden und die ich bisher noch nicht angeschaut hatte.
Ich ging hoch ins Schlafzimmer, um sie aus dem Nachtkästchen zu holen. Ganz vorsichtig öffnete ich den Umschlag. Obwohl ich große Angst vor dem hatte, was ich gleich zu sehen bekommen würde, konnte ich mich nicht zurückhalten. Ich musste mir diese Aufnahmen anschauen, um wieder etwas fühlen zu können!
Und dann sah ich sie…
Auf dem einen Foto Lenny. Im Brutkasten, an unzähligen Kabeln angeschlossen. Nur eine Pampers an, die mindestens drei Nummern zu groß für ihn war. Lauter kleine Nadeln in seinem schutzlosen Körper. Wie er so daliegt, so schwach und verletzlich… - mein armer kleiner Schatz!!
Und auf dem anderen Bild Romy. Mit einem weißen Jäckchen und einer bunten Decke warm zugedeckt. Sie sieht aus, als würde sie friedlich schlafen. So süß… Und trotzdem ist sie auf diesem Bild in echt SCHON TOT. Tot!!! Oh Gott, meine Mausi!
Als ich die Fotos sah, platzte der Knoten in mir. Endlich spürte ich wieder „etwas“! Endlich konnte ich weinen! Und gleichzeitig wäre ich fast zerrissen vor all dem Leid, von dem ich mit einem Male absolut überfüllt war. Ich weinte so sehr um meine beiden Kinder, dass ich unter dieser Last beinahe den Verstand verloren hätte.
Ich bekam keine Luft und fühlte mich wie erdrückt. Ich lief in gebückter Haltung von Zimmer zu Zimmer, eine Hand an meinem Herzen. Ich heulte, atmete stoßartig, mir war schwindelig und der ganze Raum um mich herum verschwamm. Ich war nicht mehr Herr über mich selbst, sondern gebrochen in tausend Teile nackte Ratlosigkeit.
Ich wusste nicht mehr, wohin mit all meiner Liebe und meiner Sehnsucht und schrie immer wieder: „Wo seid ihr bloß?! Babys, wo seid ihr denn bloß?! Oh Gott, ich weiß nicht, was ich ohne euch machen soll…!“
Ich lief hinüber in ihr Kinderzimmer, wieder zurück ins Schlafzimmer, wieder zu ihren Fotos, zurück in ihr Zimmer… ich wusste einfach nicht, wohin mit meinem Schmerz und suchte immer weiter nach meinen Kindern! Ich fühlte mich so hilflos, so verzweifelt und so vollkommen verloren.
Kraftlos ließ ich mich schließlich aufs Bett sacken und schluchzte: „Was soll ich denn nur tun?! Babys, sagt mir doch bitte, was ich tun soll! Ich tue alles für euch, bitte…!“
Und urplötzlich, im selben Atemzug, kam wie aus dem Nichts:
„Sei glücklich...“
Ich war ganz erschrocken über diese unvermittelte Antwort und fragte, ohne auch nur darüber nachzudenken, wem ich diese Frage überhaupt stellte:
„Aber… Wie soll ich denn jetzt glücklich sein? Das geht doch gar nicht. Ich kann doch jetzt nicht einfach glücklich sein…“
Und in der gleichen Sekunde hörte ich:
„Aber du sagtest doch, du würdest alles für uns tun…“
(Ausschnitt aus meinem Buch "Wenn aus Trauer Liebe wird", Kapitel 15: Sei glücklich)
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