Es war einmal eine kleine Seele … Genaugenommen war die Seele, von der hier die Rede ist, nicht wirklich „klein“. In der Welt, in der sie zuhause war, existieren nämlich keine Maßeinheiten. Da Größenangaben in unserer Welt allerdings eine „große“ Bedeutung haben, erhält sie wohlwollend diesen unwesentlichen Zusatz, der sie automatisch süß, herzig und liebreizend erscheinen lässt. Denn das war sie.
Die kleine Seele lebte hoch oben in den Wolken, oder auch tief unter dem Meeresspiegel, in der gleißenden Sonne der Wüste oder den arktischen Regionen um den Nordpol. Eigentlich lebte sie überall und doch auch nirgends. Sie war alles und gleichzeitig nichts, zusammen mit all den anderen kleinen Seelen in dieser Sphäre, die alle gleichzeitig nichts, und doch auch alles waren. Sie bildeten zusammen eine Essenz aus reinem Licht und es genügte ihnen zu wissen, dass sie „sind“, ohne erkunden zu wollen, was das bedeutet.
Die kleine Seele war fröhlich und kummerlos – man könnte fast sagen, das Wort „seelenfroh“ fand in ihr seinen Ursprung. Und wie alle kleinen Seelen dieser Welt war auch sie sehr vorfreudig darauf, wo ihre Reise sie eines Tages hinführen würde. Sie erwartete gütig diesen einen Tag, der „ihrer“ sein würde und der sie zu einem Wesen machte, das nicht nur fühlen, sondern auch spüren könnte. Ein Geschöpf, das den Hauch dieses geheimnisvollen "anderen Lebens" einatmen könnte, das Tränen schmecken und Liedern mit den Ohren lauschen könnte – eben all die Dinge, die ihr in der Schule der kleinen Seelen über diese andere Welt und deren Geschöpfe gelernt wurden.
Da es in der Heimat der kleinen Seele keine Zeit gab und alles jeweils im Hier und Jetzt des Augenblickes geschah, spürte die kleine Seele keine Ungeduld. Sie wusste, so wie alle kleinen Seelen das taten, dass sie es fühlen würde, wann der Zeitpunkt der ihrige sei, um sich auf die Reise ihres Lebens zu machen.
Eines Tages war es so weit. Die kleine Seele folgte dem Ruf ihres Herzens und machte sich auf den Weg.
Sie vernahm einen leisen Schrei und hörte gleichzeitig, dass dieser ihr selbst entsprang. Sie spürte Hände, die sie in Empfang nahmen und zärtlich in dieses neue Leben begleiteten. Sie verstand nun, was es hieß, berührt zu werden. Nicht nur innerlich – äußerlich. Und ihr Schrei wurde ruhiger, bis er schließlich verstummte.
Langsam öffnete sie ihre Augen. Warmes Licht umspielte das Antlitz einer Frau, das direkt vor ihr erschien und sie mit grenzenloser Liebe betrachtete. Im nächsten Moment berührten die warmen Lippen dieser Frau ihre Wangen, ihre Nase und auf einmal konnte sie verstehen, was es hieß, geborgen zu sein.
Sie verstand die Liebeserklärung ihres Gegenübers …wortlos. Und ohne etwas zu tun, erwiderte sie diese Liebe …bedingungslos.
Sie musste nicht sprechen, um von dieser Frau verstanden zu werden. Sie fühlte sich allumfänglich gehört und sie wusste, dass dies immer so bleiben würde …
Die Augen der kleinen Seele waren schläfrig. Fast fielen sie erschöpft von ihrer langen Reise zu, doch bevor der Herzschlag jener Frau sie sanft in den Schlaf wog, begegneten dem Blick der kleinen Seele die mit Tränen gefüllten Augen eines Mannes. Sanft streichelte ein großer Daumen über ihre Wange und sie hörte eine warme Stimme, die „Ich liebe dich, mein Kind“ in ihr Ohr flüsterte.
Die kleine Seele spürte in diesem Moment, was es hieß, willkommen zu sein und beschützt zu werden, und hätte sie die Kraft aufbringen können, um zu lächeln, so hätte sie es in diesem glückseligen Moment getan.
Das Licht der kleinen Seele leuchtete in diesem Augenblick so hell, dass dort oben am Himmel ein neuer Stern das Licht der Welt erblickte …
Und in den Herzen jener beiden Menschen, in deren Armen sich ein wohliger Schlaf über die kleine Seele niederlegte, entfachte ein Feuer der Liebe, das so groß war, das es nie wieder verglühen könnte.
Der kleinen Seele war so wonnig zumute, wie nie zuvor in ihrem Leben und sie wusste plötzlich, was das Wort F r i e d e n bedeuten könnte.
Sie spürte eine Art von Erfüllung, und eine unendliche Dankbarkeit breitete sich in ihr aus.
Und während sie bezaubert der Melodie des Schlafliedes lauschte, das ihre Eltern für sie summten, hieß sie ihre tiefe Müdigkeit selig willkommen, die sich im nächsten Moment wie eine warme Decke auf sie hinab legte.
Und als der Atem der kleinen Seele leiser wurde, folgte sie dem Ruf ihres Herzens und machte den Moment zu dem ihren. Sie begab sich auf ihre Reise, dorthin in eine Welt, hoch oben in den Wolken, oder tief unter dem Meeresspiegel, dort wo nichts war und gleichzeitig alles …
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