Ich bin mit meinem Mann und meinen beiden Kindern im Wald spazieren. Es ist einer jener Erkundungstouren, wie wir sie "seit Corona" regelmäßig machen. Wir packen einen Rucksack - Apfelschnitze, Cracker, zwei Lutscher für die Kinder und Getränke - und laufen einfach los. Oder fahren mit dem Rad irgendwo hin und laufen von dort aus los. Und wir laufen, und lachen, und kommen ins Gespräch, und sammeln Steine, und biegen ab, …und gehen auf neuen Wegen. Auf Wegen, die wir vorher nicht kannten, weil wir sie vorher nie aufsuchten. Und wir finden Idyllen, von der wir vorher nichts ahnten und entdecken Anhöhen, auf denen wir ganz andächtig werden. Und wir staunen. Und ich ertappe mich dabei, wie ich euphorisch mit den Kindern in die entlegensten Winkel von kleinen Waldhöhlen blicke und wie ich mit meinen Mann mutig auf die höchsten Felsen klettere, trotz meiner Höhenangst. Und ich staune, dass es überhaupt so viele Felsen und Klettersteine in unserer Gegend gibt, von denen wir vorher nichts gewusst hatten. Und ich frage mich, wie diese schöne Welt so lange Zeit unentdeckt bleiben konnte, obwohl sie direkt vor unserer Haustür liegt, und schon immer da war.
Und wieder ist es eine "Krise", ein ungewolltes Lebensereignis, ein Schicksalsschlag, der mir die Augen öffnet, für diese Welt, die direkt mit unserer verbunden ist, und schon immer da war, und von der ich vorher nichts wusste, weil ich diesen Weg nie gegangen bin. Und wieder sehe ich "mehr", sehe "weiter". Und erfahre Unendlichkeiten - in Zeiten von Unannehmlichkeiten. In Zeiten von Begrenzung wird meine Welt plötzlich groß, und ich erkenne, dass da viel mehr ist, und schon immer mehr war.
Und ich werde demütig. Und frage mich, was es noch alles gibt, von dem ich nichts weiß, weil es bisher keine "Krise" gab, die mich dazu gezwungen hat, genauer hinzuschauen...
Und die Vögel zwitschern, während die Kinder auf dem Waldboden Sternchenmoos streicheln, weil es so weich ist, und meine Gedanken ziehen mit den weißen Wolken am Himmel und ich frage mich, warum es immer Krisen sind, die uns neue Welten entdecken lassen, und ich denke an die Welt, die mir erst offenbart wurde, als unsere Zwillinge vor zehn Jahren mit nur wenigen Lebensstunden in den Himmel reisten. Und ich erinnere mich daran, wie schwer es war, dieser Wahrnehmung einer anderen Welt, einer Welt, die direkt neben der unseren liegt und gleichzeitig untrennbar mit ihr verwoben ist, Vertrauen zu schenken. Einer Welt, in der unsere Zwillinge nun zuhause sind und leben...
Und ich erkenne rückblickend, und gleichzeitig die Gegenwart "seit Corona" reflektierend, dass es auch ein "seit Romy und Lenny" gibt. "Seit Romy und Lenny" glaube ich an diese andere Welt, in der meine Kinder nun zuhause sind und leben und die so wunderschön ist, dass sie mir immer wieder kleine Wunder und Zeichen in den Alltag streut. "Seit Romy und Lenny" habe ich Augen für diese Wundervolligkeiten dieser anderen Welt, auf deren Weg ich nur gekommen bin, durch eine "Krise", durch ein ungewolltes Lebensereignis, durch einen Schicksalsschlag, der mir die Augen öffnete, für diese Welt, die direkt mit meiner verbunden ist und schon immer war, und von der ich vorher nichts gewusst hatte, weil ich diesen Weg nie gegangen war...
Und mein Mann und ich nehmen unsere Töchter in die Mitte, erst die eine, dann die andere, und machen "Engela, Engela, fliiiiieg!" und unsere Engel lachen. Zwei auf der Erde, in diesem Wald, auf diesem unbekannten Weg, der uns so viel Neues zeigt, und zwei im Himmel, in dieser Welt, in dieser unbekannten Welt, die schon immer da war, und die uns "seit Romy und Lenny" schon so viel Neues gezeigt hat...
Und wie wir so gehen und die Kinder davonrennen und Wanderstöcke suchen, stoße ich auf ein Schild am Rand des Waldweges. Und neben dem Schild ist eine Holzskulptur mit betenden Händen. Und mein Bauch kribbelt und ich gehe zu diesem Schild, und ich lese... und ich atme tief ein, und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Und mit offenem Mund fällt mein Blick in den Himmel, hinauf zu den Wolken, in eine Welt, die ich vorher nicht kannte, und von der ich auch heute nicht sicher weiß, ob es sie gibt, aber an die ich "seit Romy und Lenny" ganz fest glaube...
© 2020 by Sandra Wagner - die Texte sind urheberrechtlich geschützt.
Comments